Epilog
You don't own me
I'm not just one of your many toys
You don't own me
(aus dem Lied You Don't Own Me,
geschrieben von John Mandara and David White, gesungen von Lesley Gore)
DIE ERSTEN TAGE meines neuen Lebens in Freiheit verbrachte ich im Allgemeinen Krankenhaus Wien auf der kinder- und jugendpsychiatrischen Station. Es war ein langsamer, behutsamer Einstieg in das normale Leben - und auch ein Vorgeschmack auf das, was mich erwartete. Ich war bestens betreut, aber auf einer geschlossenen Station untergebracht, die ich nicht verlassen durfte. Von der Außenwelt abgeschnitten, in die ich mich gerade erst gerettet hatte, unterhielt ich mich im Aufenthaltsraum mit magersüchtigen jungen Mädchen und Kindern, die sich selbst verletzten. Draußen, vor den schützenden Mauern, tobte ein Mediensturm. Fotografen kletterten in die Bäume, um das erste Bild von mir zu erhaschen. Reporter versuchten, sich als Krankenpfleger verkleidet ins Spital einzuschleusen.
Meine Eltern wurden mit Interviewanfragen überhäuft. Mein Fall war der erste, sagen Medienwissenschaftler, bei dem die sonst eher zurückhaltenden österreichischen und deutschen Medien alle Schranken fallen ließen. In den Zeitungen erschienen Fotos meines Verlieses. Die Betontüre stand weit offen. Meine kostbaren, wenigen Besitztümer, meine Tagebücher und die paar Kleider - lieblos durcheinandergeworfen von Männern in weißen Schutzanzügen. Gelbe Schilder mit Nummern prangten auf meinem Schreibtisch und an meinem Bett. Ich musste zusehen, wie mein kleines, so lange eingeschlossenes Privatleben auf den Titelseiten landete. Alles, was ich selbst vor dem Täter noch verbergen hatte können, wurde nun in die Öffentlichkeit gezerrt, die sich ihre eigene Wahrheit zurechtlegte.
Zwei Wochen nach meiner Selbstbefreiung entschloss ich mich, den Spekulationen ein Ende zu setzen und meine Geschichte selbst zu erzählen. Ich gab drei Interviews: dem Österreichischen Fernsehen, der größten Tageszeitung des Landes, der Kronenzeitung, und dem Magazin News.
Vor diesem Schritt an die Öffentlichkeit hatte ich von vielen Seiten den Rat bekommen, meinen Namen zu wechseln und unterzutauchen. Man sagte mir, dass ich sonst niemals eine Chance auf ein normales Leben haben würde. Aber was ist das für ein Leben, in dem man sein Gesicht nicht zeigen kann, seine Familie nicht sehen darf und seinen Namen verleugnen muss? Was wäre das für ein Leben, gerade für jemanden wie mich, der all die Zeit in der Gefangenschaft darum gekämpft hat, sich nicht zu verlieren? Trotz all der Gewalt, der Isolation, der Dunkelhaft und all der anderen Qualen war ich Natascha Kampusch geblieben. Niemals würde ich jetzt, nach meiner Befreiung, dieses wichtigste Gut aufgeben: meine Identität. Ich trat mit meinem vollen Namen und mit unverhülltem Gesicht vor die Kameras und gab auch Einblicke in die Zeit der Gefangenschaft. Aber trotz meiner Offenheit ließen die Medien nicht locker, eine Schlagzeile jagte die nächste, immer abenteuerlichere Mutmaßungen bestimmten die Berichterstattung. Es schien, als würde die grausame Wahrheit allein noch nicht grausam genug sein, als müsse man sie über ein erträgliches Maß hinaus ausschmücken und mir damit die Deutungshoheit über das Erlebte entziehen. Das Haus, in dem ich so viele Jahre meines Lebens zwangsverbringen musste, wurde von Schaulustigen umlagert, jeder wollte den Schauer des Grauens spüren. Für mich war es eine absolute Horrorvorstellung, dass ein perverser Bewunderer des Verbrechers dieses Haus kaufen könnte. Eine Wallfahrtsstätte für jene, die ihre dunkelsten Phantasien darin verwirklicht sahen. Deshalb sorgte ich dafür, dass es nicht verkauft wurde, sondern mir als »Schadenersatz« zugesprochen wurde. Damit hatte ich einen Teil meiner Geschichte zurückerobert und unter Kontrolle.
Die Welle der Anteilnahme war in diesen ersten Wochen überwältigend. Ich bekam Tausende Briefe von wildfremden Menschen, die sich mit mir über meine Befreiung freuten. Nach ein paar Wochen zog ich in ein Schwesternheim beim Krankenhaus, nach wenigen Monaten in meine eigene Wohnung. Man fragte mich, warum ich nicht wieder bei meiner Mutter wohnte. Doch schon die Frage erschien mir so seltsam, dass mir gar keine Antwort darauf einfiel. Es war ja mein Plan gewesen, mit 18 Jahren selbständig zu sein, der mich all diese Jahre aufrecht gehalten hatte. Nun wollte ich das auch umsetzen, auf eigenen Füßen stehen und endlich mein Leben in Angriff nehmen. Ich hatte das Gefühl, dass mir die ganze Welt offenstand: Ich war frei und ich konnte alles tun. Alles. Eis essen gehen an einem sonnigen Nachmittag, tanzen, meine Schulausbildung wieder aufnehmen. Ich spazierte staunend durch diese große, bunte, laute Welt, die mich einschüchterte und euphorisierte, und sog gierig jedes kleinste Detail auf. Es gab vieles, was ich nach der langen Isolation noch nicht verstand. Ich musste erst lernen, wie die Welt funktioniert, wie Jugendliche miteinander umgehen, welche Codes sie verwenden, welche Gesten und was sie mit ihrer Kleidung ausdrücken wollen. Ich genoss die Freiheit und lernte, lernte, lernte. Ich hatte meine ganze Jugend verloren und so unendlich viel nachzuholen.
Erst langsam merkte ich, dass ich in ein neues Gefängnis gerutscht war. Schleichend wurden die Mauern sichtbar, die das Verlies ersetzten. Es sind subtilere Mauern, gebaut aus einem überbordenden öffentlichen Interesse, das jeden meiner Schritte bewertet und es mir unmöglich macht, wie andere Menschen die U-Bahn zu nehmen oder in Ruhe einkaufen zu gehen. In den ersten Monaten nach meiner Selbstbefreiung organisierte ein Stab von Beratern mein Leben für mich und ließ mir kaum Freiraum, um zu überlegen, was ich nun eigentlich machen wollte. Ich hatte geglaubt, mit meinem Schritt an die Öffentlichkeit meine Geschichte zurückerobern zu können. Erst mit der Zeit begriff ich, dass das gar nicht gelingen konnte. Es ging dieser Welt, die sich um mich riss, nicht wirklich um mich. Ich war durch ein schreckliches Verbrechen zu einer bekannten Person geworden. Der Täter war tot - es gab keinen Fall Priklopil. Ich war der Fall: der Fall Natascha Kampusch.
Die Anteilnahme, die einem Opfer entgegengebracht wird, ist trügerisch. Man liebt das Opfer nur, wenn man sich ihm überlegen fühlen kann. Schon mit der ersten Flut von Briefen erreichten mich auch Dutzende Schreiben, die ein mulmiges Gefühl in mir auslösten. Da waren die vielen Stalker, die Liebesbriefe, Heiratsanträge und die anonymen, perversen Briefe. Aber auch die Hilfsangebote zeigten, worum es vielen im Innern ging. Es ist ein menschlicher Mechanismus, dass man sich besser fühlt, wenn man einem Schwächeren, einem Opfer, helfen kann. Das funktioniert, solange die Rollen klar verteilt sind. Dankbarkeit gegenüber dem Gebenden ist etwas Schönes; nur wenn sie missbraucht wird, um den anderen nicht zur Entfaltung kommen zu lassen, bekommt das Ganze einen schalen Beigeschmack. »Sie können bei mir wohnen und mir im Haushalt helfen, ich biete dafür Kostgeld und Logis an. Ich bin zwar verheiratet, aber wir werden uns schon arrangieren«, schrieb ein Mann. »Sie können bei mir arbeiten, damit Sie putzen und kochen lernen«, so eine Frau, der diese »Gegenleistung« völlig ausreichend schien. Ich hatte in den vergangenen Jahren wahrlich genug geputzt. Nicht, dass man mich falsch versteht. Ich freute mich zutiefst über jede ehrliche Anteilnahme und jedes ehrliche Interesse an meiner Person. Aber es wird dann schwierig, wenn meine Persönlichkeit auf ein hilfsbedürftiges, gebrochenes Mädchen reduziert wird. Das ist eine Rolle, in die ich mich nicht gefügt habe und die ich auch in Zukunft nicht annehmen möchte.
Ich hatte all dem seelischen Müll und den dunklen Phantasien Wolfgang Priklopils getrotzt, mich nicht brechen lassen. Nun war ich draußen, und man wollte genau das sehen: einen gebrochenen Menschen, der nie mehr aufstehen wird, der immer auf die Hilfe anderer angewiesen sein wird. Doch in dem Moment, in dem ich mich weigerte, dieses Kainsmal für den Rest meines Lebens zu tragen, kippte die Stimmung.
Missbilligend nahmen die hilfsbereiten Menschen, die mir ihre alten Kleider geschickt und eine Putzstelle in ihren Wohnungen angeboten hatten, zur Kenntnis, dass ich nach meinen Regeln leben wollte. Schnell machte die Runde, dass ich undankbar sei, und sicher aus allem Kapital schlagen wollte. Man fand es eigenartig, dass ich mir eine Wohnung leisten konnte, die Mär von horrenden Interviewsummen machte die Runde. Schleichend schlug die Anteilnahme in Missgunst und Neid um - und manchmal sogar in offenen Hass.
Am wenigsten verzieh man mir, dass ich den Täter nicht so verurteilte, wie es die Öffentlichkeit erwartete. Man wollte von mir nicht hören, dass es kein absolutes Böses gibt, kein klares Schwarz und Weiß. Sicher, der Täter hatte mir meine Jugend genommen, mich eingesperrt und gequält - doch er war die entscheidenden Jahre zwischen meinem elften und meinem 19. Lebensjahr auch meine einzige Bezugsperson gewesen. Ich hatte mich durch meine Flucht nicht nur von meinem Peiniger befreit, ich habe auch einen Menschen verloren, der mir zwangsläufig nah war. Aber Trauer, auch wenn sie schwer nachvollziehbar sein mag, gestand man mir nicht zu. Sobald ich begann, ein etwas differenzierteres Bild vom Täter zu zeichnen, verdrehte man die Augen und sah weg. Es berührt die Menschen unangenehm, wenn ihre Kategorien von Gut und Böse ins Wanken geraten und sie damit konfrontiert werden, dass auch das personifizierte Böse ein menschliches Antlitz hat. Seine dunkle Seite ist nicht einfach so vom Himmel gefallen, niemand kommt als Monster auf die Welt. Wir alle werden durch unseren Kontakt mit der Welt, mit anderen Menschen zu dem, was wir sind. Und damit tragen wir alle letztlich auch eine Verantwortung für das, was in unseren Familien, in unserem Umfeld passiert. Sich das einzugestehen ist nicht leicht. Es ist ungleich schwieriger, wenn einem jemand den Spiegel vorhält, der dafür nicht vorgesehen ist. Ich habe mit meinen Äußerungen einen wunden Punkt getroffen und mit meinen Versuchen, dem Menschen hinter der Fassade des Peinigers und Saubermannes nachzuspüren, Unverständnis geerntet. Ich habe mich nach meiner Befreiung sogar mit Wölfgang Priklopils Freund Holzapfel getroffen, um über den Täter sprechen zu können. Weil ich verstehen wollte, warum er zu dem geworden war, der mir das angetan hatte. Doch ich brach diese Versuche schnell ab. Man gestand mir diese Form der Aufarbeitung nicht zu und verbrämte sie mit dem Begriff Stockholm-Syndrom.
Auch die Behörden änderten ihr Verhalten mir gegenüber nach und nach. Ich bekam den Eindruck, dass sie es mir in gewisser Weise übelnahmen, dass ich mich selbst befreit hatte. Sie waren in diesem Fall nicht die Retter, sondern diejenigen, die all die Jahre versagt hatten. Der schwelende Frust, den das bei den Verantwortlichen wohl ausgelöst hat, schwappte im Jahr 2008 an die Oberfläche. Herwig Haidinger, der ehemalige Direktor des Bundeskriminalamtes, deckte auf, dass Politik und Polizei ihre Ermittlungspannen in meinem Fall nach meiner Selbstbefreiung aktiv vertuscht haben. Er veröffentlichte den Hinweis jenes Hundeführers, der schon sechs Wochen nach meiner Entführung auf Wölfgang Priklopil als Täter gedeutet hatte - und dem die Polizei nicht nachgegangen war, obwohl sie sonst auf der Suche nach mir jeden Strohhalm ergriffen hatte.
Die Sonderkommissionen, die später meinen Fall übernahmen, wussten von diesem entscheidenden Hinweis nichts. Die Akte war »verschlampt« worden. Erst Herwig Haidinger war auf sie gestoßen, als er nach meiner Selbstbefreiung sämtliche Akten durchsah. Er machte die Innenministerin umgehend auf die Panne aufmerksam. Doch diese wollte so kurz vor den Wahlen im Herbst 2006 keinen Polizeiskandal und erteilte ihm die Weisung, die Nachforschungen ruhen zu lassen. Erst 2008, nach seiner Abberufung, deckte Haidinger diese Intervention auf und veröffentlichte über den Parlamentarier Peter Pilz folgende E-Mail, die er am 26. September 2006, einen Monat nach meiner Flucht, verfasst hatte:
»Sehr geehrter Herr Brigadier! Inhalt der ersten Weisung an mich war, dass keine Erhebungen zum zweiten Hinweis (Stichwort: Hundeführer aus Wien) gemacht werden dürfen. Dem Willen der Ressortleitung folgend habe ich mich - wenn auch unter Protest - an diese Weisung gehalten. Inhalt dieser Weisung war auch eine zweite Komponente: nämlich bis zu den Nationalratswahlen damit zuzuwarten. Dieser Termin ist mit kommendem Sonntag erreicht.« Doch auch nach den Wahlen wagte niemand, an der Sache zu rühren, sämtliche Informationen wurden weiter gedeckelt.
Als Haidinger damit 2008 an die Öffentlichkeit ging, lösten seine Aussagen fast eine Staatskrise aus. Eine neue Ermittlungskommission wurde ins Leben gerufen. Doch seltsamerweise richtete sie ihre Bemühungen nicht darauf, die Schlampereien zu untersuchen, sondern stellte meine Aussagen in Frage. Man fahndete nun erneut nach Mittätern und warf mir vor, sie zu decken - mir, die ich immer nur einem Menschen ausgeliefert war und gar nichts wissen konnte von dem, was rundherum noch geschehen war. Noch während der Arbeit an diesem Buch bin ich stundenlang vernommen worden. Man behandelte mich nun nicht länger wie ein Opfer - sondern unterstellte mir, dass ich entscheidende Details verheimlichte, und spekulierte öffentlich darüber, dass ich von Mittätern erpresst wurde. Es scheint für die Behörden einfacher zu sein, an die große Verschwörung hinter so einem Verbrechen zu glauben, als zuzugeben, dass sie die ganze Zeit einen harmlos wirkenden Einzeltäter übersehen hatten. Die neuen Ermittlungen wurden ohne Ergebnis eingestellt. Im Jahr 2010 wurde der Fall geschlossen. Die Erkenntnis der Behörden: Es gab keine Mittäter. Wolfgang Priklopil hatte allein gehandelt. Ich war erleichtert über diesen Abschluss.
Jetzt, vier Jahre nach meiner Selbstbefreiung, kann ich aufatmen und mich dem schwersten Kapitel der Aufarbeitung widmen: selbst mit dem Vergangenen abzuschließen und nach vorne zu sehen. Ich sehe nun wieder, dass nur wenige Menschen, meist anonym, aggressiv auf mich reagieren. Die Mehrheit der Menschen, die ich treffe, unterstützt mich auf meinem Weg. Langsam und vorsichtig setze ich einen Schritt nach dem nächsten und lerne, wieder zu vertrauen.
Ich habe in diesen vier Jahren meine Familie neu kennengelernt und wieder zu einem liebevollen Verhältnis mit meiner Mutter gefunden. Ich habe meinen Hauptschulabschluss nachgeholt und lerne nun Sprachen. Die Gefangenschaft wird mich mein Leben lang beschäftigen, aber ich habe langsam das Gefühl, dass ich davon nicht mehr bestimmt werde. Sie ist ein Teil von mir, aber sie ist nicht alles. Es gibt noch so viele andere Facetten des Lebens, die ich erleben möchte.
Mit diesem Buch habe ich versucht, das bisher längste und dunkelste Kapitel meines Lebens abzuschließen. Ich bin zutiefst erleichtert, dass ich für all das Unaussprechliche, Widersprüchliche, Worte gefunden habe. Sie gedruckt vor mir zu sehen hilft mir dabei, mit Zuversicht nach vorne zu blicken. Denn das, was ich erlebt habe, gibt mir auch Stärke: Ich habe die Gefangenschaft im Verlies überlebt, mich selbst befreit und bin aufrecht geblieben. Ich weiß, dass ich auch das Leben in Freiheit meistern kann. Und diese Freiheit beginnt erst jetzt, vier Jahre nach dem 23. August 2006. Erst jetzt kann ich mit diesen Zeilen einen Schlussstrich ziehen und wirklich sagen: Ich bin frei.